Bach-Illuminationen
www.faust-kultur.de , Mai 2013
Hans-Klaus Jungheinrich

Von „illuminierter Mathematik“ sprach Goethe, als er Musik von J. S. Bach hörte – wofür vor dessen Wiederentdeckung durch Felix Mendelssohn-Bartholdy selten Gelegenheit war, aber immerhin zählten Zelter und Reichardt, die Berliner Musikerfreunde des Dichterfürsten, auch schon zu denen, die sich für den Fastvergessenen aufs neue interessierten. Zweifellos könnte man den Autor der „Kunst der Fuge“ zu den bedeutendsten Mathematikern aller Zeiten rechnen. Bestechend intuitiv erfasst Goethe mit dem Wort „illuminiert“ aber das Moment der Versinnlichung, die Transformation des Konstruktiven ins Expressive, des Objektiven ins Subjektive, der abbildhaften göttlichen Ordnung in die Sphäre menschlich berührter Anschaulichkeit. Es scheint, als existiere Bachs Musik in zwei Erscheinungsformen zugleich: als Emanation mathematischer „Wahrheit“ und als jeweils aktuelle „Auslegung“ einer in jener nicht aufgehenden Essentialität. Die dialektische Spannung zwischen Gesetz und Freiheit (in Schönberg’schem Sinne: zwischen Moses und Aron) wird zum wirksamen Problemhintergrund.

Natürlich ist das nur eine schärfere Version des für die geschriebene Musik virulenten Abstands zwischen Text und klingender Wiedergabe. Bachinterpretationen haben gerade darin ihren Reiz, dass sie dem Höchstmaß gesetzlicher Strenge mit einer großen Freiheit zu begegnen vermögen: Allem Anschein zuwider fügt sich die Bach’sche Mathematik keiner Orthodoxie. Damit gestattet sie auf geradezu emphatische Weise die Beherzigung des Prinzips „Bearbeitung“. Versteht sich, dass die adäquate Bearbeitungspraxis immer eine Gratwanderung ist, weil es nicht um die Anbequemung der Texturen an virtuose oder geschmäcklerische Bedürfnisse gehen kann.

Klaviermetamorphosen Bach’scher Orgel- oder Vokalwerke, das zielt zunächst auf die Autarkie und Omnipotenz dieses Tasteninstruments hin, das sich im 19. Jahrhundert einen sogar die Orgel hinter sich lassenden „universalen“ Status verschaffte. Die Orgel blieb gleichsam zurück als ein maschinenhaft-mechanistisches Relikt, das der „beseelten“ Nuancierungsfähigkeit des Konzertflügels nicht das Wasser reichen konnte. Im 21. Jahrhundert muten Klaviertranskriptionen Bachs kaum noch als „Salon“-Adaptionen an; eher markieren sie einen Säkularisierungsschub, der etwa die Orgelwerke aus der Starre einer sakralmusikalischen Eindeutigkeit – ja, soll man sagen: erlöst, emanzipiert; oder schlichter: herausführt?

Die Frankfurter Pianistin Angelika Nebel beschäftigt sich seit langem mit Bachbearbeitungen; ungeachtet vielseitiger (auch die neueste Musik betreffender) Interessen gerät ihr dieses Terrain offenbar zu einem Faszinosum, das sie immer weiter in ihren Bann zieht. Eigens für sie entstand zum Beispiel die Klavierfassung des Ricercar a 6 aus dem „Musikalischen Opfer“ des brasilianischen Komponisten Wagner Stefani d’Aragona Malheiro Prado (Jahrgang 1982), eine in mehreren Steigerungswellen minuziös und lebhaft das polyphone Material ausbreitende Studie. Daneben enthält die profunde Anthologie „klassische“ Bearbeitungen von Walter Braunfels (Präludium und Fuge A-Dur BWV 536), Carl Tausig („O Mensch, bewein dein Sünde groß“ BWV 622), Ralph Vaughan Williams („Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ“ BWV 253/649) oder William Murdoch („Ein feste Burg ist unser Gott“ BWV 720).

Die vorliegende CD wirkt ebenso facettenreich wie konzentriert. Mit bewundernswerter Zusammengefasstheit realisiert Angelika Nebel die sehr unterschiedlichen Charaktere und Formate. Schier unendlich lang der Atem, unerschütterlich die Ruhe in Tausigs Tongedicht „O Mensch, bewein dein Sünde groß“ mit einem äußerst diskret, aber klar abgesetzten cantus firmus. Konträr hierzu wird in der g-moll-Fuge BWV 578 oder der Choralbearbeitung „Nun komm, der Heiden Heiland BWV 661 noch stärker eine „Pedalstimme“ herausmodelliert, als gälte es, das Klavier als Orgel-Darstellerin zu „legitimieren“ (was den Bearbeitern Igor Iljin beziehungsweise Arthur Briskier geschuldet sein dürfte). Es überwiegen freilich solche Verklanglichungen, die das „originale“ Kolorit vergessen machen und den Klavierklang als Optimum, gleichsam als Erfüllung von Bachs „illuminierter Mathematik“, anzielen. Als wäre dafür gar kein anderes Medium denkbar (was nicht neue „Orthodoxie“ bedeutet). In gewisser Weise „entmaterialisiert“ sich der Klavierklang, weil er, immer der „abstrakten“ Seite Bachs gewärtig, die tönende Gewalt als zünftigen Effekt oder Aplomb nicht zulässt, zumindest zügelt. Dazu bedurfte es freilich der monomanen Intensität, des Mutes und der niemals aussetzenden Bedachtheit einer pianistischen Aneignung, die ihresgleichen sucht. Jedes Detail am rechten Platz. Keine Nuance geht verloren. Und alle diese liebevollen Beleuchtungen verunklären oder verkleinern nichts von der Würde und Aura der Bach’schen Mathematik und Mystik. [...]

Quelle: www.faust-kultur.de