Die letzten Helden
07. Juli 2012
Siegfried Weyh

Bad Hersfeld - Das Klavier errichtet eine Welt für sich, eine abgekapselte und doch unerhört mitteilsame, die es stets aufs Neue zu bestaunen gilt samt ihren Konstrukteuren, den Komponisten und Interpreten. Wie jetzt wieder am vierten Festspiel-Konzertwochenende 2012, als reihenweise Tasten-Zentralgestirne auf dem gut präparierten Flügel im Johann-Sebastian-Bach-Haus erstrahlten.

Prof. Angelika Nebel, die zu den maßgeblichen Klavierpädagogen in Deutschland zählt, hatte zum dritten Mal einige ihrer Meisterstudenten an der Robert-Schumann-Musikhochschule Düsseldorf nach Bad Hersfeld mitgebracht. Nach Quantität und Qualität ergaben sich zwei regelrechte Verwöhn-Nachmittage.

Viele Worte brauchte es nicht. Am Samstag war nach wenigen Takten Musik bereits alles entschieden. Die Professorin selbst erschloss die sechsstimmige Fuga ricercata aus Bachs "Musikalischem Opfer" so umstandslos ruhig, klar, formbewusst, klanglich leuchtend, dass auch die drei jungen Pianisten die vier Werke mit zwei Stunden Spieldauer zum Spiel-Fest, zum Fest-Spiel machen mussten.

Harmonieverständnis, gesangliches Spiel stünden im Unterricht obenan, sagt Prof. Nebel. Was die Wiedergabe von Beethovens As-Dur-Sonate op. 110 durch die Südkoreanerin Yumin Kim aus Seoul nur bestätigen konnte. Unangestrengt, mit nachtwandlerischem Klangsinn und Formgefühl bringt sie den Kopfsatz in Fluss, hat im Allegro molto eine subtile Sprungartistik der Hände parat.

Unterwegs bei leichter Brise
Melodie und Sechzehntel-Untergrund im Adagio erwecken das Bild eines bei ganz leichter Brise segelnden Bootes, und die Fuge durchpulst eine makellose Technik und ein bei aller Beherrschtheit doch unwiderstehlicher Steigerungswille.

Im c-Moll-Opus 111, der letzten der 32 Sonaten und zugleich deren heiligstem Heiligtum, schloss Wagner Stefani d'Aragona Malheiro Prado aus der Nähe von Sao Paulo die Schroffheiten, Zartheiten, Diskontinuitäten und Konsonanzen Beethovens zu einem riesigen, stimmigen Kreis zusammen, der im Verlauf der Arietta-Variationen wohl jeden im Saal zu sich selbst finden ließ.

Der Brasilianer hat auch das Bach-Ricercar zu Konzertbeginn fürs Klavier transkribiert und sollte zum Finale mit einer furiosen Komposition seines Landsmannes Heitor Villa-Lobos (1887-1959) aufwarten, dem einst Arthur Rubinstein gewidmeten "Rudepoema" (raues Gedicht).

Der aktuelle Pianist entfesselte das fantastisch-ekstatische 20-Minuten-Stück als einen mitreißenden Strom von Ideen, klanglichen und rhythmischen Bausteinen, aus dem das "Treibgut" von Folklorismen, Salonhaftem, Tanzrhythmen und Avantgardismen sich plastisch abzeichnete. Im Umgang mit der Materie sollten ihre Studenten sich frei fühlen, meinte später die Lehrerin treffend.

Und so blieb auch die jüngste und einzige Europäerin Vita Gajevska aus der lettischen Hauptstadt Riga ganz bei sich selbst. Ein Schumann-Stück musste es für die drei zugewanderten Düsseldorfer ja sein.

Geschmeidige Technik
Die 23-jährige Lettin wandte ihre geschmeidige Technik, ihre architektonische Formkraft, ihr ruhig gesammeltes Temperament an die g-Moll-Sonate op. 22, ein betont ganzheitlich entworfenes Werk von raffendem Duktus. Für all ihr künstlerisches Tun findet sie anschließend das schöne Wort "Mission".

Und wir sagen: In einer immer beliebigeren, belangloseren Welt sind solche Künstler die letzten wahren Helden. Hier gab es für sie eine Fülle von Beifall, Blumen und sogar Blumenkränze.

Originalartikel